Den Mut zusammennehmen

federleicht. Aquarell von Gabriele Koenigs (2013). Als Originalbild und als Doppelkarte erhältlich.
federleicht. Aquarell von Gabriele Koenigs (2013). Als Originalbild und als Doppelkarte erhältlich.

Vor ein paar Tagen haben wir zum ersten Mal wieder Besuch bekommen. Eine Freundin war da. Welch eine Freude! Wir haben zusammen Mittag gegessen und einen langen Spaziergang miteinander gemacht. Wir hatten einander viel zu erzählen. Die Begegnung hat uns sehr gut getan. Danach war es mir ganz leicht ums Herz. Noch jetzt klingt die Freude in mir nach. 

 

Im Vorfeld war es mir ein bisschen mulmig. Wie soll das gehen mit ihr? Können wir es wagen, zusammen an einen Tisch zu sitzen? Oder können wir nur draußen einen Spaziergang machen? Wie werden wir uns begrüßen? Wir mögen uns sehr. Normalerweise nehmen wir einander in den Arm. Wenn das jetzt nicht geht, wie fremd wird sich das anfühlen? Wie können wir den Tisch decken, ohne dass Viren auf ihrem Besteck und ihrem Teller sind? Wir fühlen uns gesund. Aber man weiß ja nie, ob man etwas in sich trägt und aus Versehen jemanden ansteckt. Das wollen wir auf gar keinen Fall. Fragen über Fragen waren in mir. Aber wir haben unseren ganzen Mut zusammengenommen und es gewagt. Und es war einfach schön, trotz der Einschränkungen. Wir haben draußen auf dem Balkon gesessen. Wir hatten genug Abstand. Es war ziemlich kühl an diesem Tag. Wir mussten uns gut warm einpacken. Die Begegnung war es wert. Der Verzicht auf die Umarmung war seltsam, aber machbar. Unsere Worte und Blicke haben ausgeglichen, was an körperlichem Kontakt fehlte. Wir hatten einander viel Wichtiges zu sagen. 

 

Das erste Mal ist immer am schwierigsten. Man muss erst herausfinden, wie etwas geht. Auch mit den Videokonferenzen ist es so. Beim ersten Mal ist es alles so kompliziert. Man muss den ganzen Mut und die ganze Geduld zusammennehmen, um herauszufinden, wie es geht. Dann ist es nicht mehr so schlimm. 

 

Bald müssen Lehrerinnen und Lehrer herausfinden, wie sie wieder im Klassenzimmer unterrichten können. Ladenbesitzer müssen herausfinden, wie sie den Kundenkontakt gut gestalten können. Hotelbesitzer und Restaurantbetreiber denken darüber nach, wie sie striktere Hygienestandards einhalten können. Wir alle müssen herausfinden, wie wir uns im öffentlichen Raum wieder bewegen können. Wir brauchen dafür Mut und ganz viel Phantasie. 

 

Und wir brauchen Achtung vor dem Befinden eines anderen. Ich erinnere mich an ein besonderes Erlebnis während einer Kur. Ich hatte an einer Bergwanderung teilgenommen. Der Bergführer kam mit unserer Gruppe zu einem Felsen. Er wollte unbedingt, dass wir als ganze Gruppe dort hinaufklettern. Ich hatte furchtbar Angst. Wandern ist eine Sache. Klettern ist eine andere Sache. Ich bin nicht schwindelfrei. Ich war völlig steif vor Angst. Und Steifheit fördert nicht gerade die Geschicklichkeit. Er machte sich lustig über mich. Schließlich gab ich nach. Aufwärts ging es noch. Aber der Abstieg war ein Alptraum. Ich konnte gar nicht sehen, wohin ich meine Füße setzen musste. Ich zitterte. Schließlich musste er unter mir klettern und meine Füße jeweils an den Punkt dirigieren, an dem ich auftreten konnte. Dieses Erlebnis habe ich nie vergessen. Ich werde mich nie mehr zu etwas überreden lassen, von dem ich so deutlich spüre, dass es mich überfordert. Und ich werde niemals andere wegen ihrer Angst und Vorsicht verspotten.  

 

Wir brauchen nicht nur Mut und Phantasie, sondern auch Weisheit dazu. Möge Gott uns das schenken! 

 

 

Ich wünsche Ihnen allen und Euch allen einen guten Tag. 

Gabriele Koenigs 

 

 

 

 

Hier kommt ein Lied aus Irland. Die Fischer singen das, wenn sie auf das offene Meer hinausfahren und dafür ihren ganzen Mut zusammennehmen müssen. 

Viel Freude beim Anhören! 

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