Vor einigen Jahren durfte ich als Chorsängerin bei einem Oratorienkonzert im Kloster Maulbronn mitwirken. Wir waren ein großer Chor und hatten einige Monate für die Vorbereitung investiert. Unser Dirigent nahm es genau. Wir gaben unser Bestes. Das Orchester des Südwestrundfunks begleitete uns. Hervorragende Sängerinnen und Sänger hatten die Solostücke übernommen. Orchesterstücke wechselten sich ab mit Arien, Rezitativen und Chorälen. Die Musik war mitreißend für uns, die Aufführenden, und für das Publikum. Die Kirche war voll besetzt. Nach knapp 2 Stunden kam der Schlussakkord. Unser Dirigent ließ seine Arme nicht sinken. Ganz still hielt er sie oben, und wir schauten ihn an, immer noch ganz konzentriert. Es war eine gesammelte Stille. Die Musik klang nach im Raum und in unseren Herzen. Die Ehrfurcht, die in dieser Musik ausgedrückt war, vom ersten bis zum letzten Akkord, war zum Greifen deutlich. Für einen Augenblick war es, als sei die Zeit stehen geblieben. Schließlich ließ er die Arme sinken. Aus unseren Gesichtern wich die Spannung. Wir ließen unsere Notenmappen sinken. Und das Publikum antwortete mit tosendem Applaus. Wir freuten uns natürlich über die Begeisterung des Publikums und nahmen den Applaus gerne entgegen. Das Schönste war dennoch die Stille, die dem Applaus vorausgegangen war.
Musik führt uns in Bereiche des Unsagbaren. Sie führt uns in den Bereich des Heiligen. Sie führt uns in die Anbetung. Sie führt uns über uns selbst hinaus. Wir kennen uns dort nicht aus. Wir sind manchmal ein wenig überfordert, das zu spüren. Darum machen wir gleich etwas anderes, wenn die Musik zu Ende ist. Wir applaudieren. Wir schalten das Programm um. Wir stehen schnell auf. Wir sprechen miteinander. Wir machen Witze. Wir gehen zur Normalität zurück. Es hat alles mit unserer Verlegenheit zu tun. Niemand meint es böse, wer so reagiert. Es kommt einfach aus der Überforderung durch das Unbekannte. Und dennoch ist es ganz schade, wenn Musik einfach in der Banalität erstickt wird. Ich bin unserem Dirigenten sehr dankbar dafür, dass er diesen Augenblick ermöglicht hat, in dem wir alle etwas Größeres fühlen konnten als die Banalität.
Dieses Jahr können wir keine Live-Konzerte an Weihnachten hören. Kein Weihnachtsoratorium, keine Adventskantaten, kein Messias von Händel. Das ist sehr schade. Musik verleiht dem Weihnachtsfest einen besonderen Glanz. Wir haben natürlich Aufzeichnungen von Konzerten aus anderen Jahren. Wir können Videos anschauen und CDs anhören. Alles steht uns zur Verfügung – viel mehr, als wir wirklich brauchen. Oft werden wir in diesen Weihnachtstagen alleine sein. Gönnen wir uns ab und zu ergreifende Weihnachtsmusik. Und auch ohne dass ein Dirigent ist, der das steuern kann: Gönnen wir uns die Stille, die da ist, wenn der letzte Akkord verklungen ist. Lauschen wir auf das Echo der Musik in uns selbst. Lassen wir uns hineinführen in die Anbetung, den Lobpreis und das Staunen. Verweilen wir einen Moment dort, bevor wir wieder in eine Tätigkeit zurückgehen. Wenn wir alleine sind, kann niemand die Stille stören, außer wir selbst.
Wir können das sogar heute schon ausprobieren, nicht wahr? Alleinsein ist nicht nur eine Last. Es ist auch eine Chance.
Ich wünsche Ihnen und Euch allen einen schönen Sonntag.
Gabriele Koenigs
Hier hören Sie eine ergreifende Arie aus einer Adventskantate von Johann Sebastian Bach, musiziert in der Kilianskirche Heilbronn.
Öffne dich, mein ganzes Herze, Jesus kömmt und ziehet ein. Bin ich gleich nur Staub und Erde, Will er mich doch nicht verschmähn, Seine Lust an mir zu sehn, Dass ich seine Wohnung werde. O wie selig werd ich sein!
Viel Freude beim Anhören! Genießen Sie auch die Stille zwischen den einzelnen Phrasen....
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