In einer warmen Sommernacht saßen wir am Lagerfeuer und sangen. Ich war damals 16 Jahre alt. Manche von uns waren schon ein wenig älter. Einer spielte Gitarre. Wir liebten es, in das Feuer zu schauen und zusammen zu sein. Die Nacht war warm. Wir saßen am Ufer eines Baggersees. Weit und breit war niemand außer uns.
Auf einmal kam eine Gruppe von Studenten aus Heidelberg dazu. Ich habe keine Ahnung, wie sie uns gefunden haben. Das Spannendste war, dass sie einen amerikanischen Soldaten im Schlepptau hatten. Er erzählte uns vom Vietnamkrieg. Die Studenten erzählten von den Protesten gegen den Krieg, die sie organisierten. Und er brachte uns ein Lied bei, das wir bis dahin noch nicht kannten: "We shall overcome" (übersetzt: Wir werden es überwinden). Er erzählte uns von Martin Luther King und vom gewaltlosen Kampf der Schwarzen in Amerika um die Bürgerrechte. Dies Lied sei die Hymne der Bürgerrechtsbewegung, erzählte er. Es ist ein eingängiges Lied, leicht zu lernen, und es trägt eine ansteckende Hoffnung in sich. "Eines Tages werden wir in Frieden leben. Wir werden Hand in Hand gehen, Schwarze und Weiße zusammen. Wir werden uns nicht mehr fürchten. Die Wahrheit wird uns frei machen. Tief in meinem Herzen glaube ich, dass es so ist. Wir werden eines Tages überwinden."
Dieses Lied hat seither einen festen Platz in meinem Herzen. Ich habe es immer wieder gesungen, alleine und zusammen mit anderen. Ich habe Aufnahmen aus Konzerten von Joan Baez angehört und mitgesungen. Dieses Lied hält die Hoffnung wach - auch jetzt noch, so viele Jahre später. Ich bin jetzt schon an der Schwelle zum Alter. Joan Baez hat ihre Abschiedstour als Sängerin gemacht. Das Lied veraltet nicht.
Tief in meinem Herzen lebt noch mehr, das mir Kraft gibt. Worte aus der Bibel und von beeindruckenden Menschen. Goldene Erinnerungen. Wichtige Lehren, die ich empfangen durfte. Mitgefühl. Mut. Freude. Begeisterung. Dankbarkeit. Es ist in meinem Herzen nicht eingeschlossen wie in einer Konserve, sondern es strahlt aus nach außen. Es erscheint in den Worten und Blicken, in den Begegnungen und Taten. So ist es nicht nur bei mir. So ist es auch bei Ihnen und bei euch. Alles Wertvolle, das wir in uns tragen, ist zum Teilen und Weitergeben da. Wir werden dadurch nicht ärmer, ganz im Gegenteil. Das Leuchten intensiviert sich beim Teilen.
Zur Zeit kommt mir das Lied "We shall overcome" oft in den Sinn. Es gibt mir Mut. Wir werden die Pandemie überwinden. Wir werden einander wieder umarmen. Wir werden zusammen singen und lachen, tanzen und feiern. Wir werden reisen, in Konzerte und ins Theater gehen und uns an Begegnungen freuen. Aber wir schaffen das nur, wenn alle ihren Teil dazu tun und Rücksicht aufeinander nehmen und Geduld haben. Vieles geht nicht so schnell, wie wir es gerne hätten. Die Impfungen brauchen ihre Zeit. Aber immerhin ist der Anfang gemacht.
Gehen wir voller Zuversicht in dieses neue Jahr. Und teilen wir mit anderen die Zuversicht, die in unseren Herzen lebt.
Ich wünsche Ihnen allen und Euch allen ein gutes, gesegnetes neues Jahr.
Gabriele Koenigs
Hier ist eine Aufnahme von der jungen Sängerin Joan Baez mit dem Lied "We shall overcome...."
Viel Freude beim Anhören und Mitsingen!
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