Als ich ein Kind war, durfte ich manchmal ein paar Tage bei den Großeltern sein. Sie waren damals schon im Ruhestand. So hatten sie Zeit, sich ihren Enkelkindern zu widmen und sie zu verwöhnen. Da sie dem Trubel nicht mehr gewachsen waren, war es ihnen am liebsten, wenn nur eines von uns kam. Für mich war das auch herrlich. Daheim waren wir viele Leute in einer engen Wohnung im Hochhaus. Bei den Großeltern gab es viel Platz, einen Garten, interessante Bücher und alles, was das Herz begehrt. In einem Schränkchen im Wohnzimmer bewahrten die Großeltern das Spielzeug auf, mit dem schon ihre Kinder gespielt hatten. Gerne holten sie es heraus, wenn eines der Enkelkinder zu Besuch war. Das Allerschönste in diesem Schränkchen war eine große Muschel. Mein Großvater sagte: „Wenn du sie an dein Ohr hältst, hörst du das Meer rauschen.“ Wie gerne tat ich das! In der Muschel war ein besonderes Geräusch, das ich sonst noch nie gehört hatte. Ob das wirklich das Meeresrauschen war? Es war viel zu weit bis zum Meer. So lauschte ich in der Muschel dem Meer. Beim Lauschen geriet ich unweigerlich ins Träumen. Ich konnte stundenlang lauschen, träumen und sinnieren. Dabei wurde ich ganz ruhig. Ich kam in Kontakt mit etwas, das viel größer ist als ich. Ich vergaß meine Probleme und Sorgen und die vielerlei Pflichten, die ich in meinem Alltag zuhause hatte. Ein großes Staunen ergriff mich jedes Mal, wenn ich die Muschel an mein Ohr hielt.
Lauschen führt uns über uns selbst hinaus. Schauen führt uns auch über uns selbst hinaus. Wenn ich im Wald unterwegs bin, lausche ich auf den Gesang der Vögel. Ich schaue mir die Bäume an, das Laub, die Blümchen am Wege. Ich sehe die vielerlei Farben und rieche die Düfte. Beim intensiven Wahrnehmen bekommt das Denken eine Ruhepause. Nichts ist erholsamer als das. Das Gedankenkarussell ist manchmal wie eine Plage. Sie kennen das wahrscheinlich auch. Die immer gleichen Gedanken tauchen auf, bei Tag oder bei Nacht, und rauben uns die Ruhe. Man kann den Gedanken nicht befehlen, dass sie aufhören sollen. Das einzige Hilfsmittel, das ich gegen diese Plage kenne, ist es, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was größer ist. Schauen, lauschen, atmen, schmecken, riechen, gehen, mit der ganzen Achtsamkeit.
Lina ist Erzieherin. Sie hat eine große Liebe zu den Kindern und ein überaus empfindsames Herz. Sie spürt, was die Kinder brauchen. Sie singt und tanzt mit ihnen und sie gibt ihnen Anregungen für Achtsamkeit. In Fortbildungen bringt sie das auch ihren Kolleginnen bei. So kommen die Kinder in den Genuss von Stilleübungen und Wahrnehmungsübungen, alleine, zu zweit, in der ganzen Gruppe. Das verändert die Atmosphäre im Kindergarten. Es ist heilsam für alle. Der Umgang der Kinder untereinander wird durch solche Übungen verändert. Auch zuhause mit ihren Enkelkindern übt sie Achtsamkeit. Sie hat für mich ein schönes Foto gemacht, auf dem ihre fünfjährige Enkelin zu sehen ist, die eine Muschel an ihrem Ohr hat und lauscht. Aus diesem Foto durfte ich mein Gemälde erschaffen.
Vor uns allen liegen große Aufgaben. Es kann nicht so weitergehen wie bisher mit der Ausbeutung der Bodenschätze und der Menschen. Es kann nicht so weitergehen mit dem Ausstoß von Kohlendioxid durch die Industrienationen. Es kann nicht so weitergehen mit der immer größeren Schere zwischen Reichen und Armen. Es werden Menschen gebraucht, die hinhören können und aufmerksam sind. Es werden Menschen gebraucht, die ihre eigenen Bedürfnisse spüren können und mitfühlen können mit anderen. Es werden Menschen mit Liebe zur Schöpfung gebraucht. Wer Kinder zur Achtsamkeit anleitet, tut etwas Unersetzliches für die Zukunft.
Sinnen wir diesem Geheimnis nach. Kommen wir ins Staunen, immer wieder von neuem. Kehren wir ein in die Ruhe. Denn aus der Ruhe kommt die Kraft. Und aus dem Staunen entsteht die Anbetung und das Gotteslob.
Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche
Gabriele Koenigs
P.S: Diese Geschichte und dieses Bild werden in meinem neuen Buch enthalten sein. Es wird den Titel tragen: Alles wird gut. Voraussichtlich wird es am 15. Juni 2021 erscheinen.
In der Ordensregel der Benediktiner gibt es die Weisung: "Schweige und höre. Neige deines Herzens Ohr. Suche den Frieden."
Aus dieser Weisung ist ein Kanon entstanden. Hier können Sie ihn anhören und mitsingen. Viel Freude dabei!
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