Steter Tropfen höhlt den Stein

Steter Tropfen höhlt den Stein. Dieses abstrakte Bild auf Leinwand (50 cm x 50 cm)  ist gerade im Entstehen. Ich zeige es heute, obwohl ich nicht sicher bin, ob es schon fertig ist. Auf Rückmeldungen bin ich gespannt.
Steter Tropfen höhlt den Stein. Dieses abstrakte Bild auf Leinwand (50 cm x 50 cm) ist gerade im Entstehen. Ich zeige es heute, obwohl ich nicht sicher bin, ob es schon fertig ist. Auf Rückmeldungen bin ich gespannt.

Manches geht nur langsam voran. Viel langsamer, als uns das lieb ist. So ist es gerade mit den Impfungen. Könnte es nicht zügiger gehen? So fragen viele. Wann kann der Lockdown endlich beendet werden? Wann können wir endlich wieder etwas unternehmen? Wann können wir verreisen, an Kursen teilnehmen, unsere Freunde wiedersehen? Meine Geduld ist manchmal fast am Ende. So geht es im Moment vielen.

 

Könnte es nicht zügiger vorangehen? So habe ich mich in meinem Leben immer wieder gefragt. Die größte Geduldsprobe war die Doktorarbeit meines Mannes. Das ist nun schon lange her, aber gerade jetzt kam mir die Erinnerung daran.

 

Als wir jung waren, studierten mein Mann und ich evangelische Theologie in Berlin. Wir hatten faszinierende Lehrer. Einer von ihnen war Helmut Gollwitzer. Er war damals schon ein alter Mann. Er gab keine regulären Vorlesungen und Seminare mehr. Er predigte noch ab und zu. Wir hingen an seinen Lippen. Er hatte so viel Interessantes zu erzählen. Als junger Mann war er für den verhafteten Pfarrer Martin Niemöller in seiner Gemeinde in Berlin-Dahlem eingesprungen. Es war die Zeit des Nationalsozialismus. Die Christen, die nicht gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten machten, waren täglich betroffen von Denunziationen, Verhaftungen, Einschüchterungen, Judenverfolgung. Gollwitzer ermutigte und tröstete, so gut er konnte. Jeden Tag trafen sie sich in der Annenkirche zu einem Fürbittgottesdienst für die Verfolgten. Wir wollten immer mehr von dieser Geschichte erfahren.

 

Friedrich- Wilhelm Marquardt war unser anderer Lehrer. Er bemerkte unser Interesse an der Geschichte der Bekennenden Kirche. Er schlug meinem Mann vor, eine Doktorarbeit darüber zu schreiben. Eines Tages luden Helmut und Brigitte Gollwitzer meinen Mann zu sich ein. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand ein großer alter Koffer. Er war voll alter Briefe. Es war seine gesamte Korrespondenz der Jahre 1940 – 1946. Gollwitzer war damals zum Militär eingezogen. Aber er wirkte weiterhin als Seelsorger der Gemeinde. Die Gemeindeglieder schrieben ihm von ihren Nöten und Diskussionen. Er antwortete mit Briefen an die Einzelnen und mit Rundbriefen, die in der Gemeinde herumgegeben wurden. Alle diese Briefe waren in seinem großen alten Koffer. „Mach daraus eine Doktorarbeit“, sagte er. Das war ein großer Auftrag und ein ganz großes Vertrauen.

 

Nach dem Examen machte sich mein Mann mit Eifer an die Arbeit. Er fand einen Job in der Staatsbibliothek, um etwas für den Lebensunterhalt zu verdienen. Helmut Gollwitzer stockte den Betrag mit einem privaten Stipendium auf. Professor Friedrich Wilhelm Marquardt, unser hoch geschätzter theologischer Lehrer, wurde sein „Doktorvater“. Zuerst mussten wir die Süttlerlinschrift lernen, um die alten Briefe entziffern zu können. Ich schrieb sie mit unserer mechanischen Schreibmaschine ab. Immer tiefer drangen wir in die Materie ein. Erkenntnis kam zu Erkenntnis, tröpfchenweise. Mein Mann formulierte seine Erkenntnisse in Handschrift auf kleinen Ringbuchseiten. Immer wieder schrieb ich diese ab und schlug ihm sprachliche Überarbeitungen vor. Bei jeder Korrektur hieß es von neuem zu beginnen, denn die Schreibmaschine konnte damals noch nichts speichern. Mein Mann war in intensivem Austausch mit seinem Doktorvater und anderen Doktoranden. Ich lernte nebenbei für mein Examen. Diese Zeit der Forschung war eine der schönsten Zeiten unseres Lebens. Aber es ging nur langsam voran. Es wurde uns klar, dass wir in die nächste Lebensphase eintreten mussten, bevor wir die Doktorarbeit vollenden konnten. Der Eintritt in den Pfarrberuf lässt sich nicht auf ewig verschieben.

 

So brachen wir unsere Zelte in Berlin ab und zogen in unsere schwäbische Heimat zurück. Wir wurden Vikare und hatten vieles zu lernen. Predigten schreiben, Religionsunterricht geben, Sitzungen leiten, Beerdigungen halten. Das alles war Neuland. Wir waren voll ausgefüllt. Die Doktorarbeit blieb liegen, zu unserem großen Bedauern. Manchmal arbeitete mein Mann an einem freien Tag daran. Bis er sich wieder hineingedacht hatte, war der Tag schon um. So konnte er nicht vorankommen. Wir merkten, dass es besser war, die Ferien für diese Arbeit zu benützen. In jeder Ferienzeit nahmen wir die Doktorarbeit mit auf die Reise. So ging es auch nach dem Vikariat weiter. Wir übernahmen eine Pfarrstelle. Jedes von uns hatte nur die halbe Stelle. Trotzdem blieb nicht genügend Zeit, um regelmäßig an der Doktorarbeit dranzubleiben. Weiterhin widmeten wir unsere Ferien dem Forschen, Formulieren und Präzisieren. In jeder Ferienzeit entwickelte sich die Arbeit ein Stückchen weiter. Inzwischen gab es elektrische Schreibmaschinen mit Speicherfunktion. Ich musste nicht mehr jede Seite neu tippen, wenn ein Fehler darinnen war. Das war eine große Erleichterung. Immer deutlicher nahm die Arbeit Gestalt an.

 

Nach 10 Jahren war es endlich so weit, dass wir die fertige Arbeit nach Berlin zu seinem Doktorvater schicken konnten. Gespannt warteten wir auf seine Antwort. Wochen vergingen, keine Antwort. Monate vergingen, keine Antwort. Mein Mann ist sehr bescheiden. Er hasst es, jemanden zu drängen. Er wartete. Ich schrieb eines Tages an seinen Doktorvater: „Was ist mit der Doktorarbeit? Ist sie noch nicht gut genug, oder was ist los?“ „Wir würden so gerne Bescheid haben!“ Auch auf diesen Brief bekamen wir keine Antwort. Nun hatten wir so viele Jahre unseres Lebens in dieses Forschungsprojekt investiert, und es sollte einfach im Sande verlaufen? Das konnte doch nicht wahr sein!

 

Eines Tages bekamen wir den erlösenden Brief. „Deine Arbeit ist gut. Wir bringen das jetzt zu Ende. Du musst deine Thesen auf 3 Seiten zusammenschreiben, kurz und prägnant. Wir setzen eine Disputation in Berlin an, zusammen mit dem Zweitkorrektor und der interessierten Öffentlichkeit.“ „Und wir müssen einen Verlag finden, der dein Buch druckt.“ Auch diese Etappe ließ sich nicht im Handumdrehen bewältigen. Aber nun gab es wenigstens wieder konkrete Schritte zu tun. Wir setzen alle Energie hinein, das zu schaffen. Helmut Gollwitzer legte ein gutes Wort bei dem Verlag ein, der alle seine Werke gedruckt hatte. Ein Druckkostenzuschuss ließ sich auch organisieren. Kurz nach seinem 40. Geburtstag bekam mein Mann den Doktortitel. Sein Buch wurde gedruckt. Wir waren überglücklich.

 

Ich bin dankbar, dass mir diese Erinnerung an die größte Geduldsprobe unseres Lebens gerade jetzt gekommen ist. Sie sagt mir: Gib nicht auf! Manches dauert viel länger, als du dachtest. Nur Beharrlichkeit führt zum Ziel. Steter Tropfen höhlt den Stein.

 

Vielleicht kommen Ihnen auch Erinnerungen an größere Geduldsproben, die Sie schon überstanden haben? 

 

Ich wünsche euch allen und Ihnen allein einen schönen Sonntag und eine gute Woche

 

Gabriele Koenigs


Hier hören Sie eine Klavierimprovisation zu dem Gebet: 

 

"Lass mich dein sein und bleiben,

du treuer Gott und Herr. 

Von dir lass mich nichts treiben, 

halt mich bei deiner Lehr.

Herr, lass mich nur nicht wanken, 

gib mir Beständigkeit. 

Dafür will ich dir danken

in alle Ewigkeit."

 

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