Dieser Baum steht oberhalb unseres kleinen Städtchens Zavelstein. Er beeindruckt mich durch seinen eigenwilligen Wuchs. Er sieht beschwingt aus, fast wie eine Tänzerin. Grazil streckt er seine Ängste nach allen Seiten aus und wiegt sich im Wind. Er ist fest verwurzelt. Der Wind schadet ihm nicht. Er nimmt nur die Blätter mit. Goldgelb leuchtet das verbliebene Blätterkleid im Abendlicht. Bald wird der Baum ohne Blätterkleid dastehen. Bald tritt die Winterruhe ein. Noch ist es nicht so weit. Noch können wir uns an den goldenen Herbstfarben freuen. Welch ein Herbst! Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich schon einmal solch farbenfrohes Leuchten gesehen habe. Vielleicht war ich nur aufmerksamer als in anderen Jahren? Jedenfalls habe ich die Herbstfarben genossen. Wenn ich durch den Wald gefahren bin oder gelaufen bin, war in mir ein großes Staunen. Und ich dachte an die Maus Frederik aus dem schönen Kinderbuch von Leo Lionni, die vor dem Winterschlaf all die schönen Farben in sich aufnimmt, um davon im Winter zu zehren.
Der Baum ist verbunden mit Himmel und Erde und mit allen Wesen, die um ihn, unter ihm und über ihm leben. So sind auch wir verbunden mit allem, was lebt. Wir machen uns das nicht immer bewusst. Wir fühlen uns immer wieder allein, unverstanden, isoliert. Aber dies ist ein Irrtum. Wenn wir genau hinspüren und aufmerksam sind, können wir die Verbindungen wahrnehmen. Manche sind stärker, manche sind feiner. Manche sind neu, andere sind uralt. Manche tun einfach gut. Andere fordern uns heraus und rufen nach einem neuen Wachstumsschritt.
In der vergangenen Woche habe ich einen Malkurs in unserem schönen Städtchen gegeben. Die Teilnehmerinnen waren Anfängerinnen der Aquarellmalerei. Manche von ihnen haben noch nie einen Aquarellpinsel in der Hand gehabt. Zusammen haben wir Schritt für Schritt diesen herbstlichen Baum als Aquarell erschaffen. Manche waren ängstlich, ob sie das wohl schaffen können. Wir waren eine gute Gemeinschaft. Alle haben einander Mut zugesprochen und die entstehenden Bilder gewürdigt. Es gab keine Hochnäsigkeit und keine Konkurrenz. Jede hat sich nicht nur am eigenen Bild gefreut, sondern auch an den Bildern der anderen. Jede hat Fehler gemacht und gelernt, wie sich die Fehler korrigieren lassen. Jede hat auch die Fehler der anderen gesehen und gelernt, wie sich Abhilfe schaffen lässt. Die Verbindung zwischen uns wurde von Tag zu Tag deutlicher. Manche werden nach dem Kurs die Verbindung halten. Manche werden einander wieder treffen. Auch die, die es nicht tun werden, werden dankbar von der Verbindung zehren, die uns allen Kraft gegeben hat.
Immer wieder fiel mir der Beginn eines Liedes ein, das ich vor vielen Jahren in der Gemeindearbeit mit Gruppen gesungen habe: "Gott spannt leise feine Fäden..." So ist es. Gott verbindet uns untereinander und mit der ganzen Schöpfung. Seien wir achtsam dafür und voller Dank.
Mein Herz ist voller Dank dafür, wie reich mein Leben geworden ist durch die vielen Verbindungen, die zusammen mit meiner künstlerischen Tätigkeit entstanden sind. Die Malschülerinnen und Malschüler, Bilderkundinnen und Bilderkunden, Auftraggeberinnen und Auftraggeber, Ausstellungsbesucherinnen und Ausstellungsbesucher, Leserinnen und Leser meiner Bücher und Beiträge, Künstlerkolleginnen und -kollegen und viele andere lassen mich spüren: Du bist nicht allein. Wir sind miteinander verbunden.
Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche
Gabriele Koenigs
Hier kommt das Lied von Clemens Bittlinger, von dem mir nur die ersten Worte eingefallen waren. Wirklich ein Mutmachlied! Viel Freude beim Anhören und Mitsingen!
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