Das innere Licht

Inneres Licht (vorläufiger Titel). Ölgemälde auf Leinwand 100 cm x 100cm von Gabriele Koenigs (2022)
Inneres Licht (vorläufiger Titel). Ölgemälde auf Leinwand 100 cm x 100cm von Gabriele Koenigs (2022)

Als russische Soldaten in der Ukraine einmarschiert sind, hat ein befreundeter Künstler aus Russland bei Facebook sein Titelbild geändert. Er ersetzte sein Gemälde durch ein schwarzes Rechteck. Es ist ganz und gar schwarz. Das war ein starkes Zeichen. So zeigte er, wie schrecklich die Geschehnisse sind, und dass sie nicht in seinem Namen und im Namen seiner Freunde und Familie geschehen. Und dennoch ist er mit hineingezogen. Mitglieder aus seiner Familie und seinem Freundeskreis werden eingezogen, um in diesem Krieg zu kämpfen, der wahnsinnig ist und gegen jedes Völkerrecht steht. Wir alle sind mit hineingezogen. Wir sind nicht direkt betroffen, aber indirekt. Wir werden alle die Auswirkungen dieses Krieges spüren. Wir fühlen mit den Menschen, die jetzt ihre Nächte in den unterirdischen Bahnhöfen verbringen müssen und die Schüsse und Sirenen hören. Wir fühlen mit denen, die Angehörige in den Kämpfen verlieren. Wir fühlen mit denen, die verletzt sind. Wir können gar nicht so tun, als gehe uns das alles nichts an. Wir sind viel tiefer verbunden, als wir gemeinhin wahrnehmen.

 

In den letzten Wochen habe ich ein Buch wiedergelesen, das mir sehr viel bedeutet. Jacques Lusseyran, ein Franzose, hat es nach dem 2. Weltkrieg geschrieben. Es erschien unter dem Originaltitel: "Et la lumiere fut". Die deutsche Übersetzung bekam den Titel: "Das wiedergefundene Licht. Die Autobiographie eines Menschen, den seine Blindheit sehen lehrte". Ich möchte Ihnen und euch heute davon erzählen.

 

Jacques hat im Alter von 8 Jahren sein Augenlicht verloren. Bis dahin war seine Kindheit völlig normal verlaufen. Er war ein glücklicher kleiner Junge. Im Jahr 1924 ist er in Paris geboren. Seine Eltern umgaben ihn mit Wärme und Fürsorge und unendlicher Liebe. Er genoss das Leben in der pulsierenden Großstadt und die Ferien bei den Großeltern auf dem Land. Er liebte das Leben und das Licht. Er beobachtete das Spiel des Lichtes auf den Hauswänden und den Gegenständen. Er konnte sich stundenlang mit farbigen Stiften beschäftigen. Er sog das Licht in sich ein, wo er nur konnte. Als er 7 Jahre alt war, stand er eines Tages im Garten seiner Großeltern und weinte. Er wusste in diesem Moment, dass er den Garten zum letzten Mal sah. Es war nicht nur eine Ahnung. Es war eine Gewissheit. Woher war sie gekommen? Tatsächlich geschah drei Wochen danach der Unfall, der ihm das Augenlicht raubte. Es passierte in der Schule. Eine Schulstunde war zu Ende. Die Kinder rannten zur Tür, um in die Pause zu gelangen. Im Gedränge bekam er aus Versehen einen Stoß von einem anderen und fiel. Dabei bohrte sich ein Brillenbügel in seinen rechten Augapfel und riss ihn heraus. Durch den gewaltigen Stoß war auch der andere Augapfel in Mitleidenschaft gezogen und musste entfernt werden. Von einem Tag auf den anderen war dieser Junge vollkommen blind geworden.

 

Es war ein Schock, für ihn und für seine Eltern. Einige Zeit war alles finster. Er schaute im Park dorthin, wo er einst die Bäume gesehen hatte. Er konnte sie nicht mehr sehen. Die Gesichter seiner geliebten Eltern waren nicht mehr da. Es gab nur noch Stimmen, Gerüche, Berührungen. Er stieß sich an den Gegenständen. Er konnte sich nicht mehr zurechtfinden. Alles war unübersichtlich und bedrohlich.

 

Dann entdeckte er etwas Neues. Er entdeckte, dass das Licht nicht nur außen war. Er fand es in sich selbst. Dazu musste er die Aufmerksamkeit nach innen lenken. Sehende schauen immer nach dem, was außen ist. Er lernte, nach innen zu schauen. Das innere Licht  leuchtete ihm bei Tag und bei Nacht. Alle Farben des Regenbogens waren in diesem Licht. Er wurde von diesem inneren Licht geführt. Und er lernte, sich in der Welt neu zurechtzufinden. Mit Hilfe seiner Eltern lernte er die Brailleschrift. Ein Freund sorgte dafür, dass die anderen Kinder ihn weiterhin mitspielen ließen. Er bot sich als Führer an. Jacques durfte sich an seinem Hals festhalten. Zusammen unternahmen die beiden Wanderungen, Wettrennen und Kinderspiele. Seine Eltern beschlossen, ihn nicht in ein Internat für Blinde zu geben, sondern ihm weiter den Besuch einer normalen Schule zu ermöglichen. Jacques erwarb sich den Respekt seiner Lehrer und Mitschüler durch ausgezeichnete Schulleistungen. Sein Freund begleitete ihn auf den Wegen zur Schule und nachhause. Zusammen durchliefen sie die Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen. Gemeinsam vertieften sie sich in Literatur und die großen Fragen des Daseins. Mit seinem Vater besuchte er wöchentlich Konzerte. Mit dem Heranwachsen wurde seine Wahrnehmung immer feiner. Sein Gedächtnis war phänomenal. Vor seinem inneren Auge sah er die Geschichtszahlen, Namen, Orte. Er brauchte keine Notizzettel. Er sah es alles vor sich.

 

Das innere Licht war nicht gleichmäßig. Es verfinsterte sich, wenn er Angst hatte oder wenn er ärgerlich und ungeduldig war. Sowie er sich von dunklen Antrieben wie Neid leiten ließ, stolperte er und fiel er. Das innere Licht leuchtete ihm in den schönsten Farben, wenn er glücklich und friedfertig war. Und es warnte ihn vor solchen Menschen, die nicht aufrichtig waren. Sofort spürte er, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Er konnte nicht sehen, dass sie erröteten oder wie sie schauten. Aber er hörte ganz genau die Nuancen ihrer Stimmen und er spürte die Qualität ihrer Bewegungen. Seine Menschenkenntnis war untrüglich. Das innere Licht war sein Kompass. Er ließ sich in jedem Augenblick leiten. Das große Licht lehrte ihn zu leben.

 

Als er 15 Jahre alt war, begann der zweite Weltkrieg. Frankreich wurde von den deutschen Soldaten besetzt. Das Land versank in Furcht und Schweigen. Die Nationalsozialisten überzogen das ehemals freie Land mit ihrer Gewaltherrschaft. Sie verhafteten Juden und politische Gegner und deportierten sie in Konzentrationslager. Der Onkel seines Freundes wurde auch abgeholt. In der Tiefe seines Herzens verabscheute Jacques jede Gemeinheit, Grausamkeit und Lüge. So dachte er darüber nach, was er beitragen könnte, um den Nationalsozialisten zu widerstehen. Er sammelte Jugendliche um sich, die bereit waren zu jedem Risiko und zu jeder Aufopferung. Sie verteilten Flugblätter in Paris und der Umgebung, in denen sie über die Schrecken des Nationalsozialismus informierten und die Bevölkerung zum Widerstand ermutigten. Alles geschah unter Lebensgefahr. Jederzeit drohte Verrat. Alle jungen Leute, die sich der Widerstandsgruppe anschließen wollten, mussten sich persönlich bei Jacques vorstellen. Er spürte untrüglich, ob sie aufrichtig waren. Hunderte von Jugendlichen schlossen sich an. Mehrere solche Gruppen waren im Geheimen tätig. Jacques schloss sich mit einer anderen Gruppe zusammen. Weiterhin blieb er in der Leitung. Alle wichtigen Entscheidungen wurden im innersten Leitungskreis durchdacht.

 

Eines Tages bot sich ein kluger, gewandter, wagemutiger Medizinstudent für eine besonders schwierige Aufgabe an. Die Widerstandsbewegung hätte ihn sehr gut brauchen können. Während dem Kennenlerngespräch sah Jacques einen schwarzen Balken. Und doch traute er diesmal seiner Intuition nicht. Er beriet sich mit zwei Freunden, die mit ihm in der Leitung waren. Sie einigten sich, es trotzdem mit ihm zu wagen. Es war dann tatsächlich dieser Mann, der nach einigen Monaten die ganze Gruppe verriet. 

 

Jacques und alle seine Freunde wurden verhaftet. Zunächst waren sie in Frankreich im Gefängnis. Dann wurden sie in verschiedene Konzentrationslager in Deutschland gebracht. Jacques kam nach Buchenwald. In seinem Transport im Viehwagen waren 2000 Franzosen. Bei der Befreiung von Buchenwald am Ende des Krieges lebten nur noch 30 von ihnen. Jacques war einer von ihnen. Die Schrecken von Buchenwald waren unbeschreiblich. Verzweiflung und die niedersten Instinkte bestimmten das Zusammenleben. Manche Häftlinge waren unter diesen Umständen verrückt und gefährlich geworden. Jacques war in einer Baracke eingesperrt, in der 1500 „Krüppel“ zusammengepfercht waren: Blinde, Einbeinige, Einarmige, Geistesgestörte. Er kroch zwischen ihnen umher und tröstete und ermutigte. Bald gehörte er zu einer Gruppe im Lager, die Rundfunksender aus dem Ausland abhörte. Er gab die Nachrichten weiter, um seine Mitgefangenen zum Leben zu ermutigen. Er kämpfte gegen die Panik an. Und er lernte, jeden Moment, der ihm gegeben war, mit Dankbarkeit zu empfangen. Bissen von Brot auf seiner Zunge, ein wärmender Sonnenstrahl, Vogelgesang: Alles das waren ihm Zeichen von göttlicher Liebe. Alles das half ihm zu glauben, dass Licht und Leben den Sieg behalten.

 

Ich kann sein Buch wärmstens empfehlen. Diesen Glauben an das Licht brauchen wir alle, gerade jetzt. 

Und: Ich habe ganz neu verstanden, warum wir beim Beten die Augen schließen. Wir orientieren uns nicht nach aussen, sondern nach innen. Wir suchen das göttliche Licht. 

 

Möge Gott uns beistehen. Und mögen wir das Licht finden, das uns den Weg aufzeigt, Tag für Tag und Nacht für Nacht. Mögen wir uns davon leiten lassen.

 

 

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche

Gabriele Koenigs

 

P.S: Mein Bild ist in den letzten Tagen entstanden. Ich weiß nicht, ob es schon fertig ist oder ob sich noch etwas daran ändern wird. Auf Rückmeldungen bin ich gespannt. Und auch auf Titelvorschläge. Vorläufig nenne ich es: Inneres  Licht. 


Drei junge Frauen aus Georgien bringen ihr Gebet dar, mit wunderschönen Stimmen. Es wurde am Tag des Kriegsbeginns aufgenommen. 

Vereinen wir unsere Gebete mit den ihren! 

 

Und im Folgenden kommt das Friedensgebet "Dona nobis pacem", dargebracht von einem virtuellen Chor aus Amerika. Dona nobis pacem heißt übersetzt: Gib uns Frieden! 

 

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