Die Tränen kullern, wie so oft. Viktoria kann sie nicht zurückhalten. Sie weint und weint. Jemand hat etwas Hässliches zu ihr gesagt. Sofort kommen Tränen. Es ist so gemein gewesen. Und es kommt noch schlimmer. „Heulsuse“, ruft eine andere. „Kannst du dich gar nicht beherrschen?“
Viktoria hat es so oft schon probiert. Aber es klappt einfach nicht. Sie ist empfindsam. Wenn etwas weh tut, kommen die Tränen. Wenn sie sieht, dass es jemand anderem schlecht geht, weint sie aus Mitgefühl. Ihre Tränen fließen auch, wenn sie glücklich ist. Einmal durfte sie mit in ein Konzert. Sie war überwältigt von der Schönheit der Klänge und weinte. Befremdet schaute die Nebensitzerin zu ihr hin. „Was hat dieses Kind“, fragte sie“ Ihre Mutter antwortete: „Es ist nichts Besonderes. Sie ist nur einfach nahe am Wasser gebaut.“
Ihre Mutter hatte ihr den Namen Viktoria gegeben, die Siegreiche. Ihre Tochter sollte strahlend und stark werden, wie eine Heldin. Nun war es ganz anders gekommen. Und niemand wusste ein Mittel dagegen.
Viktoria schämte sich ihrer Tränen. Sie fühlte sich wie eine Versagerin. Am schlimmsten war es in der Pubertät. Sie konnte die Gemeinheiten ihrer Kameraden einfach nicht mehr ertragen. Im Biologieunterricht hatten sie gelernt, dass die Tränendrüsen für das Erzeugen der Tränenflüssigkeit verantwortlich sind. Zuhause fragte sie ihren Vater: „Könnt ihr bitte einen Doktor finden, der meine Tränendrüsen wegoperiert?“
Als Erwachsene lernte sie, ihre Tränen zu verbergen. An ihrer Arbeitsstelle zog sie sich in die Toilette zurück, wenn es schlimm kam. Sie wusch sich ihr Gesicht und erneuerte das Makeup, so dass niemand mehr sehen konnte, dass sie geweint hatte. Manchmal gab sie vor, Heuschnupfen oder eine Allergie zu haben. Manche Situationen vermied sie einfach. Orgelmusik in der Kirche war so etwas Gefährliches. Sie hörte die Klänge und dachte an ihre verstorbene Mutter, die immer so gerne in der Kirche gewesen war. Sofort wurden ihre Augen feucht. Darum ging sie nicht mehr in die Kirche. Sie hasste sich für ihre Tränen, durch die sie von so vielem ausgeschlossen war.
In der Lebensmitte wagt sie einen Neuanfang. Sie übernimmt die Büroarbeit für zwei bemerkenswerte Frauen. Diese haben eine Beratungspraxis. Sie beraten Einzelne und Gruppen, und sie geben Kurse. Sie sind klug, einfühlsam und ideenreich. Hier kommt immer wieder jemand mit verweintem Gesicht aus dem Beratungszimmer. Ihre Chefinnen sind gewohnt, damit umzugehen. „Lass die Tränen laufen, solange sie laufen. Sie hören bestimmt auch wieder auf“, sagt die eine. „Jede Träne ist wie ein Diamant“, sagt die andere. „Etwas ganz Wesentliches kommt in ihnen zum Vorschein!“ „Tränen reinigen und tun gut!“ Manchmal kommen ihnen beim Zuhören selbst die Tränen. Aber sie schämen sich nicht dafür. Umso tiefer wird die Verbindung zu denen, die bei ihnen Rat suchen. Und umso befreiter und herzhafter ist das Lachen, wenn die Tränen versiegt sind.
Viktoria befreundet sich mit den beiden und mit einigen Frauen, die hier ein- und ausgehen. Eine hat ihr gesagt: „Ich wäre so froh, wenn ich weinen könnte wie du! Bei mir kommen leider gar keine Tränen!“ Viktoria wird immer nachdenklicher. Kann es wirklich sein, dass Tränen wichtig sind? Allmählich erkennt sie, dass der Kampf gegen die Tränen sinnlos ist. Niemals wird sie daraus als Siegerin hervorgehen, so oft sie es auch probiert. Beinahe 50 Jahre hat sie diesen Kampf gekämpft, ohne Erfolg. Nun versucht sie etwas anderes. Sie versucht, ihre Tränen zu akzeptieren. Ihr neuer Freundeskreis unterstützt sie dabei.
Eine Freundin hat ihr eine Karte geschenkt. Von Hand hat sie geschrieben: „Tränen sind eine Gabe, nicht eine Plage. Jede Träne ist ein Zeichen, dass du lebst!“ Rundherum hat sie ein Muster aus vielen Tränen gemalt.
Viktoria schmunzelt, wenn sie diese Karte sieht. Ja wirklich, ich lebe, und wie!!!!! Ein Strahlen zieht über ihr Gesicht.
Ich wünsche Ihnen allen und Euch allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche
Gabriele Koenigs
Hier singt Eugen Eckert sein Lied: "Bewahre uns Gott, behüte uns Gott...". Es geht auf einen Text aus Argentinien zurück. Er hat es für die deutsche Sprache neu gedichtet.
Ich empfinde es als eines der besten Lieder für schwere Zeiten. Es hat seinen Weg in viele Gesangbücher gefunden. Sie finden es auch im Evangelischen Gesangbuch.
Viel Freude beim Anhören und Mitsingen!
Und hier noch ein Lied:
Im Lied "Komm, Herr, segne uns..." finden wir die Zeile "Lachen oder Weinen wird gesegnet sein". Joachim Trautwein hat es im Jahr 1978 gedichtet. Er war damit seiner Zeit voraus. Mögen Sie es wieder einmal singen?
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