Es ist ein trüber Tag heute. Einer von denen, an denen es mühsam ist, in Schwung zu kommen. Bernd stellt seinen schönen Leuchter auf den Frühstückstisch und zündet eine Kerze an. Gleich ist es heimeliger. Annette hat diesen Leuchter sehr geliebt. Jeden Sonntag stand er auf dem Frühstückstisch. Annette ist vor ein paar Jahren gestorben. Aber es gibt immer noch vieles in seinem Haushalt, das ihn an sie erinnert. Er erinnert sich auch an das, was sie über diesen Leuchter gesagt hat: „Er ist ein kleines bisschen schräg aus den Händen der Töpferin gekommen. Unperfekt wie das Leben, und dennoch so schön!“ Bernd liebt solche Erinnerungen an Annette. Immer wieder tauchen sie auf. Er ist stark mit ihr verbunden, immer noch.
Bernd steuert den Bus durch die Innenstadt von München. Er braucht seine ganze Konzentration dafür. Er ist sich seiner großen Verantwortung bewusst. Seine Fahrgäste sollen sicher an ihr Ziel kommen. Etwas Aggressives liegt heute in der Luft. Dauernd hupt jemand oder macht Drohgebärden. Sie fahren dicht aufeinander auf und bremsen erst im letzten Moment. Der Verkehr läuft nur stockend. Bernd spürt die genervte Stimmung auch im Bus. Vor allem im Feierabendverkehr. Der Bus ist voll. Die Leute geraten wegen Kleinigkeiten in Streit. Es wird immer lauter. Einer verliert im Gang das Gleichgewicht und schubst dabei einen anderen. Wütende Reaktionen sind die Folge. Als eine hochschwangere Frau einsteigt, bietet ihr niemand einen Platz an. Im Gang kann eigentlich niemand umfallen, so eng ist es. Die Enge trägt aber noch mehr zur Aggressivität bei.
Bernd schaltet die automatische Haltestellenansage aus. Er schaltet sein Mikrophon an und macht eine Durchsage. „Liebe Fahrgäste, es war heute ein anstrengender Tag. Ich sehe, wie müde und genervt ihr seid. Ich empfehle euch aber eines: Nehmt euren Ärger und Frust nicht mit nachhause. Lasst ihn hier bei mir, hier im Bus. Am Ende meiner Fahrt schmeiße ich das alles in die Isar.“
Jemand fängt an zu lachen. Andere lachen mit. Das Gelächter perlt durch den Bus. Sie reden miteinander. "So eine verrückte Idee!" "So ein verrückter Typ!" "Was seine Vorgesetzten wohl dazu sagen würden?" Die Stimmung im Bus ist ganz verändert.
Vor der nächsten Haltestelle nimmt Bernd nochmals das Mikrofon und sagt: „Mein Angebot steht. Wer will, kann heute vorne aussteigen und mir seinen Ärger vorbeibringen.“ Als der Bus steht, öffnet Bernd die Tür und seine Hand. Tatsächlich kommen ein paar Leute nach vorne. Er hält ihnen die offene Hand hin. Sie lassen mit einer pantomimischen Geste etwas in seine offene Hand gleiten. An jeder Haltestelle wiederholt Bernd sein Spiel. An jeder Haltestelle nehmen welche sein Angebot an. Viele grinsen ihn dabei an. „Danke, Kumpel!“ „Einen schönen Abend dir!“ „Aber schmeiß dies Zeug wirklich in die Isar, dass du es auch los wirst!“ So und ähnlich lauten ihre Kommentare dazu.
Als Bernd am Betriebshof ankommt, stellt er den Motor ab. Nach einem letzten Kontrollgang durch den Bus nimmt er seinen Rucksack und geht zur Isar. Es sind nur ein paar Schritte bis dahin. Er steigt die Böschung hinunter bis zum Wasser. Nun macht er auch eine große pantomimische Geste. Er öffnet die Hände und dreht sie dann in Richtung des Wassers. Er schüttelt sie kräftig, als ob er allen Ärger hinausschütteln könnte. Die Bewegung tut ihm gut. Er schüttelt noch kräftiger. Auch die Schultern kommen in Bewegung, die Beine, sein ganzer Körper. Er stampft auf den Boden. Wilde Laute kommen aus seinem Mund. Er macht sich Luft. Dabei wird ihm immer leichter zumute. Zum Schluss kommt ein befreites Lachen. Plötzlich fühlt er sich wunderbar.
„Das war die beste Idee seit langem“, sagte eine Stimme in ihm. Er ist sich nicht sicher, woher diese Stimme kommt. Sie klingt nach Annette. „Es war schon ein bisschen schräg. Aber du hast Licht gebracht. Ich bin richtig stolz auf dich.“
Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Adventssonntag und eine gute Woche
Gabriele Koenigs
Hier können Sie eine schöne Arie aus dem Oratorium "Der Messias" hören, gesungen von Fritz Wunderlich. Viel Freude dabei!
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