In guten Händen

behutsam. Ölgemälde von Gabriele Koenigs (2020). Privatbesitz
behutsam. Ölgemälde von Gabriele Koenigs (2020). Privatbesitz

Hagar hat einen besonderen Namen. Und sie hat heilende Hände. Schon ihre Großmutter hat das bemerkt. Sie litt unter schmerzenden Füßen und Beinen. Wenn Hagar kam und sie massierte, wurde es besser. „Kind, du hast heilende Hände“, sagte die Großmutter dankbar zu dem neunjährigen Mädchen. Hagar kümmerte sich auch um die gebrochenen Flügel eines Vögelchens, um kranke Meerschweinchen und allerlei Tiere, die ihr gebracht wurden. Es hatte sich in der Nachbarschaft herumgesprochen, dass sie bei ihr in guten Händen waren. Manche starben trotz ihrer Fürsorge. Aber mit jedem Patienten lernte sie weiter. Sie lernte genau hinzuspüren, wo es fehlte bei Mensch und Tier. Sie spürte hin auf das klopfende Herz, auf verkrampfte Muskeln und den Fluss des Atems. Die Empfindsamkeit in ihren Händen wuchs von Jahr zu Jahr. "Man muss innere Augen durch die Hände hindurch entwickeln, um in den Menschen hineinsehen zu können", sagt sie. "Und das geht nur, wenn man es liebevoll macht". Auch ihrer migränekranken Mutter kam das zugute. Hagar lernte, die schlimmen Schmerzen in ihrem Kopf zu lindern. Sie lernte, umso sanfter hinzufassen, je schlimmer die Schmerzen sind.

 

Sie erlernte den Beruf der Krankenschwester. Sie sog das Wissen auf wie ein Schwamm. Sie lernte die Namen und Funktionsweisen der Muskeln, Knochen und Organe und die richtigen Griffe, um Patienten zu stützen und zu lagern. Sie schärfte ihre Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, Menschen in der Not zu begleiten. Ihre Menschenkenntnis wuchs. Im katholischen Ordenshospital St-Vincenz der Cellitinnen in Köln, in dem sie ihre Ausbildung als Krankenschwester erhielt, wurden im Winter auch Obdachlose aufgenommen. Es war die Aufgabe der Schwesternschülerinnen, sie zu waschen und zu baden. Viel Menschlichkeit und Nächstenliebe hat sie dort erfahren und gesehen. Gerne erinnert sie sich an diese prägende Zeit.

 

Nach der Ausbildung arbeitete sie in verschiedenen Krankenhäusern. Am meisten gefiel es ihr in anthroposophischen Krankenhäusern. Dort verstanden sich Ärztinnen und Ärzte, Physiotherapeuten und Kunsttherapeutinnen und Pflegende als ein großes Team. Morgens trafen sich alle, um über die Patientinnen und Patienten zu sprechen, jeden einzelnen besser wahrzunehmen und daraus die beste Therapie zu entwickeln. Im Kern stand die Frage: „Was braucht dieser Mensch gerade?“ Das Sinnvollste aus Schulmedizin und Naturheilkunde wurde dabei genutzt.

 

Die Welt der Naturheilkunde rief nach ihr. Als sie sich genügend Geld für die Flüge zusammengespart hatte, leistete sie sich eine große Reise nach Ost- und West-Afrika. Sie reiste auf eigene Faust und wollte sehen, wie die Heilerinnen und Heiler dort arbeiten, unter einfachsten Bedingungen, mit wenigen Mitteln und mit einer Verbindung zur geistigen Welt. Sie wollte auch sehen, wie diese mit der Schulmedizin zusammenarbeiten. Es war ein großes Geschenk für sie, dass sie bei Behandlungen zusehen durfte und ihre Fragen stellen konnte. Teilweise fuhr sie mit völlig fremden Menschen auf dem Moped drei Stunden in das Hinterland, um bei Behandlungen dabei zu sein, die ihr durch zwei Übersetzer erklärt wurden. Es war eine lehrreiche und faszinierende Reise.

 

Nach der Heimkehr aus Afrika begann sie die Ausbildung zur Heilpraktikerin. Der Schwerpunkt in ihrer Ausbildung lag auf der Pflanzenheilkunde. Der Lernstoff war immens. Drei Jahre lang „drückte sie die Schulbank“, aber es war Freude pur. Sie lernte etwa 600 Heilpflanzen in ihrer Anwendung kennen. Das interessierte sie brennend. Das Wissen war die notwendige Ergänzung zu ihrer Empfindsamkeit und Sanftheit. Als sie dann soweit war, eine eigene Praxis zu eröffnen und Kranke zu behandeln, lernte sie nebenbei stets weiter. Sie besuchte viele Fortbildungen. Sie wollte immer tiefer verstehen. Bald begann sie auch damit, ihr Wissen weiterzugeben. Angehende Heilpraktikerinnen hospitierten bei ihr. Sie gab Kurse und Vorträge an Volkshochschulen und anderen Einrichtungen und sprach auf Kongressen. Welch ein reiches, erfülltes Leben!

 

Sie begann, sich für die Homöopathie zu interessieren, als die Pflanzenheilkunde immer schwieriger zu praktizieren war. Es wurde immer schwieriger, die Heilpflanzen in den Apotheken zu erhalten. "Naturheilkunde ist preiswert, umweltschützend und individuell einsetzbar", sagt sie. "Aber die politischen Rahmenbedingungen erschweren leider den Einsatz von Naturheilkunde. Ein individuelles und damit hochwirkungsvolles Tee- und Tinkturenrezept schreibt heute leider kaum noch ein Therapeut." Die Homöopathie kann ebenso individuell eingesetzt werden. Sie ergänzt das, was an pflanzenheilkundlichen Mitteln nicht mehr erhältlich ist.

 

Als sie 50 Jahre alt war, fühlte sie eine große Erschöpfung. Sie gönnte sich ein Sabbatjahr, um ihr Leben neu zu überdenken. „Ist es wirklich meine Berufung, was ich hier tue?“ Dieser Frage wollte sie sich ernsthaft stellen. Jeden Tag vermisste sie ihre Patientinnen und Patienten. Das war die deutlichste Zeichen für sie. „Beim Heilen bin ich, was ich bin. Für das Heilen bin ich auf die Welt gekommen.“

 

Nach dem Sabbatjahr kehrte sie glücklich in ihre Praxis zurück, die sich schnell wieder füllte. Sie behandelt Erwachsene und Kinder und alte Menschen. Sie achtet jetzt auf eine gesunde Balance. Neben ihrer Arbeit tanzt sie Tango, singt in einem großen Kirchenchor und pflegt viele Freundschaften und die Beziehungen zu ihrer Familie. "Beim Tangotanzen begeistert es mich, dass alle Paare auf der Tanzfläche zusammen ein harmonisches Ganzes in ständiger Bewegung ergeben. Das tut gut", sagt sie. "Genauso wichtig ist für mich das Singen im Chor. Es ist immer ein Ringen um die gemeinsame Harmonie. Im Konzert ist sie dann da und das ist tief erfüllend. Jeder hat dabei seinen guten Platz in voller Kraft und wirkt mit den anderen zusammen."

 

Seit vielen Jahren kennen wir uns. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich sie damals gefunden habe. Ich bin dankbar, dass ich zu ihr kommen darf, wenn ich sie brauche. Sie hilft mir mit ihren heilenden Händen und ihrem umfassenden Wissen, mit vielen Ideen und ihrem offenen, mitfühlenden Herzen. Bei ihr fühle ich mich gesehen.

 

Einen Menschen wirklich ansehen, aufmerksam, liebevoll, voller Wertschätzung, ohne Abwertung. Das ist ihr wichtig. Und das hat ganz viel mit ihrem Namen zu tun.

 

In der Bibel wird von Hagar erzählt. Sie war eine Sklavin von Abraham und hatte mit ihm einen Sohn. Als Verstoßene lebte sie mit ihrem Sohn Ismael in der Wüste. Es war ein hartes Leben. Aber Gott ist ihr erschienen und hat versprochen, sie und ihren Sohn zu behüten und zu segnen. Voller Dank sagte die biblische Hagar damals: „Du bist der Gott, der mich sieht!“

 

Gott sieht uns. Mit unseren Talenten und dem, was in uns schlummert. Mit unseren Nöten und Bedrängnissen. Mit einer großen Vision für Frieden und Freiheit und einer Liebe, in der es Platz gibt für alle und alles. Dieser Glaube verbindet uns.

 

Ich wünsche euch und Ihnen einen schönen Sonntag und eine gute Woche

Gabriele Koenigs

 

P.S: In meinem Ölbild sind die Hände einer anderen Theraupeutin zu sehen. Zugrunde liegt ein Foto von Magdalena Krause. Hagars Hände habe ich noch nicht gemalt. Ich würde es gerne. Möglicherweise lässt sich das eines Tages umsetzen.

In mein Ölbild habe ich Worte aus einem Gebet von Sabine Naegeli hineingeschrieben. Weil sie in der digitalen Fotografie schlecht zu lesen sind, zitiere ich sie hier:

"Segne meine Hände, dass sie behutsam seien.

Dass sie halten können, ohne zur Fessel zu werden.

Dass sie sich anvertrauen können.

Dass sie geben können ohne Berechnung.

Gib ihnen die Kraft zu trösten und zu helfen."


Hier hören Sie 4 phantastisch gute Sänger. Sie singen "amazing grace", einfach in einem Treppenhaus. Dort singen sie auch Lieder wie "Ave Maria" und "ubi caritas....". Es ist besonders, solche Lieder an ganz profanen Orten zu singen. Viel Vergnügen beim Hören und Schauen und Mitsingen! 

 

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