Mein Vater war mir sehr wichtig. Und zugleich war er mir unheimlich. Er war klug und geschickt. Er konnte unser Auto reparieren und das Geld verdienen, das unsere große Familie zum Leben brauchte. Er war ein Tüftler. Ich bewunderte ihn. Er legte seine Worte auf die Goldwaage. Darum wusste ich kaum, was in ihm vorging. Er sprach wenig über das, was ihn bewegte. Und er war viel mehr abwesend als anwesend. Er arbeitete als Ingenieur in einer Firma, die Filter für Autos entwickelte. Er hat mich nie in die Firma mitgenommen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wo und wie er arbeitet. Manchmal wurde er auf Geschäftsreise für die Firma geschickt. Voller Stolz zeigte er uns ein Foto, auf dem er zu sehen ist, wie er im Flugzeug sitzt. Flugzeuge waren seine große Leidenschaft. Er hatte während des Krieges als Funker in Hitlers Armee gedient. Aus dieser Zeit gibt es keine Fotos, und er sprach auch nicht darüber, wie es war, andere Flugzeuge abzuschießen und Bomben abzuwerfen. Aber er hatte ein Erinnerungsstück aus dieser Zeit. Er besaß noch seinen bodenlangen schwarzen Soldatenmantel aus glänzendem Leder. Dieser Mantel war mir unheimlich, so oft ich ihn sah.
Mein Vater war kein schlechter Mensch, ganz und gar nicht. Aber er war traumatisiert von seiner Jugend in der Nazizeit und von den Ereignissen im 2. Weltkrieg. Ab und zu konnte er völlig ausrasten. Meine Mutter erzählte ihm, wenn wir Geschwister uns etwas hatten zu Schulden kommen lassen. Er verteilte die Strafen. Ungehorsam konnte er nicht ertragen. Dementsprechend hart waren die Strafen. Es passierte nicht oft, dass er uns prügelte. Aber wenn es passierte, war es schrecklich. Er verlor ganz und gar die Kontrolle über sich selbst. Sein Zorn war nahezu grenzenlos. Im Krieg und in der militärischen Ausbildung war Ungehorsam nicht erlaubt und wurde auf brutalste Weise bestraft. Das steckte in ihm. Wahrscheinlich meinte er es sogar gut mit uns, wenn er uns so bestrafte. Er wollte uns zu guten Menschen erziehen und den Ungehorsam austreiben.
Besonders unheimlich wurde er mir, als ich erfuhr, dass er sich immer wieder betrank. Ich habe ihn nie betrunken erlebt. Meine Eltern haben es gut vor uns Kindern und vor den Verwandten verborgen. Aber seit ich es wusste, war er mir noch unheimlicher als zuvor.
Ist Gott auch so? Unheimlich? Meistens abwesend? Mit grenzenlosem Zorn? Einer, vor dem man sich besser in Sicherheit bringt, bevor er zuschlagen kann? Einer, dessen Strafen stets zu fürchten sind? Einer, dem man es eigentlich nie recht machen kann? Einer, den man gar nicht verstehen kann? Einer, dem man besser aus dem Wege geht?
Viele Menschen leben mit einem solchen Gottesbild. Die Kirche hat viel dazu beigetragen, dass es weitergegeben wurde von Generation zu Generation. Den Menschen wurde mit Höllenstrafen gedroht, um sie gefügig zu halten. Zur Zeit von Martin Luther blühte der Ablasshandel, bei dem die Menschen sich angeblich freikaufen konnten von Gottes Zorn. Die Kirche hat daran sehr gut verdient. Martin Luther hat dagegen protestiert. Es entstand die evangelische Lehre und die evangelische Kirche. Aber auch in ihr blieb die Gottesfurcht. In seinem "Kleinen Katechismus", in dem die evangelische Lehre in Grundzügen erklärt wird, heißt es immer wieder: "Wir sollen Gott fürchten und lieben..." Viele Generationen von Konfirmanden haben das auswendig gelernt.
Fürchten und lieben: Geht das wirklich zusammen? Passt das wirklich zusammen?
Im 1. Brief des Johannes heißt es: "Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm." Und: "Furcht ist nicht in der Liebe. Sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus." (1. Johannes 4, 16 - 18)
Ich trug schon als kleines Mädchen die Hoffnung und das Vertrauen in mir, dass der "himmlische Vater" anders ist als mein leiblicher Vater. Ohne, dass ich es hätte begründen können und ohne dass ich darüber sprechen konnte, wusste ich: Gott ist Liebe. Liebe, die mich sieht und genauso akzeptiert, wie ich bin. Liebe voller Mitgefühl und Verstehen. Liebe, die nur das Beste im Sinn hat für mich und für alle Menschen. Dieser Gott war meine Zuflucht, und er hat mich nicht im Stich gelassen, niemals. Die göttliche Liebe ist größer als alles. Sie währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ich vertraue ihr. Von dieser Liebe möchte ich sprechen und singen. Sie leuchtet auf in meinen Bildern. Sie berührt nicht nur mich, sondern viele andere ebenso, innerhalb der Kirche und außerhalb von ihr. Wir wenden uns dieser Liebe zu, und wir möchten sie bezeugen in Wort und Tat. Sie verbindet uns untereinander und mit allem, was ist. Sie führt uns hinaus über die traditionellen Begriffe der Kirche und anderer Religionen. Wir versuchen neu zu sagen und neu zu denken, was uns Halt gibt. Die göttliche Liebe richtet uns auf das Wesentliche aus.
Es ist eine gemeinsame Suche und Neuorientierung. Ich bin sicher, dass viele von Ihnen und Euch auch auf dieser Suche sind. Gut, dass wir verbunden sind!
Alles Liebe und Gute für euch und für Sie!
Gabriele Koenigs
Helge Burggrabe hat den Vers "Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus" wunderbar vertont. Hier singt das Frauenensemble "Sjaella" diese Komposition. Es ist ein Stück aus einem Film über die Widerstandskämpferin Cato Bontjes van Beek. Sehr empfehlenswert!
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Angelika Summer (Sonntag, 03 November 2024 16:35)
Liebe Frau Königs,
ich lese jeden Sonntag Ihren Beitrag. Er ist jedes Mal anders aber immer sehr persönlich geschrieben. Sie haben mich 1989 konfirmiert. Gerne denke ich an diese gemeinsame Zeit zurück. Was Sie heute "arbeiten" ist viel mehr als eine Predigt schreiben oder einen Gottesdienst vorbereiten. Ich hoffe und wünsche mir, dass die anderen Leserinnen und Leser verstehen was ich ausdrücken möchte. Alles Liebe und Gute für Sie und Ihren Mann.