
Wer bin ich? Bin ich das, was andere von mir denken? Bin ich das, was sie über mich sagen? Bin ich das, was ich tief in mir selbst empfinde? Wer bin ich, wenn sie mich bewundern? Und wer bin ich, wenn sie mich verurteilen? Wer bin ich, wenn ich mich selbst verurteile? Was von dem allem ist wahr?
Dietrich Bonhoeffer hat im Jahr 1944 ein bewegendes Gedicht geschrieben, in dem er sich diesen Fragen stellt. Er war damals schon verhaftet. Er hatte sich dem Widerstand gegen Hitlers Gewaltherrschaft angeschlossen. Die Verschwörer hatten einen Staatsstreich und ein Attentat auf Hitler geplant. Die Verschwörung war aufgeflogen. Das Attentat am 20. Juli 1944 war missglückt. Alle Verschwörer und Mitwisser, darunter einige aus der großen Familie Bonhoeffer, wurden verhaftet. Viele wurden direkt nach dem 20. Juli umgebracht. Bonhoeffer saß im Gefängnis in Berlin-Tegel. Er wusste, dass er von den Nationalsozialisten keine Gnade erwarten konnte. Er schrieb Tagebuch, und er schrieb Briefe an seine Verlobte, an seine Familie und Freunde. Darin können wir sein Gedicht finden.
"Wer bin ich?
Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich?
Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich?
Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selber von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen.
Wer bin ich?
Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich?
Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich?
Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich,
Dein bin ich, o Gott!"
Dietrich Bonhoeffer (1944)
Der überraschende Schluss seines Gedichtes lenkt den Blick auf die Gottesbeziehung. "Du kennst mich! Dein bin ich, o Gott!" Das war sein Trost. Das befreite ihn von den quälenden Gedanken. Das gab ihm Geborgenheit und Halt, selbst angesichts des Todes. Am 9. April 1945 wurde er hingerichtet.
Auch Jesus hat seinen Halt in der Gottesbeziehung gefunden. Er musste Verurteilung und Spott und Hass erleiden. Seine Freunde verrieten und verließen ihn. Die Bewunderung des Volkes schlug um in den Ruf "Kreuzige ihn!" Es blieb ihm nur die Beziehung zum himmlischen Vater. Diese war und ist größer als Menschenmeinungen. Sie trägt mitten im Leiden. Und sie weist über den Tod hinaus.
Vor uns liegt die Karwoche. Wir gehen auf Ostern zu. Ich schlage Ihnen und Euch vor, den Satz von Bonhoeffer mit hineinzunehmen in diese Woche.
"Du kennst mich. Dein bin ich, o Gott!"
Herzliche Grüße
Gabriele Koenigs
Aus der Gemeinschaft von Taizé stammt das Lied: "Nada te turbe.".
Es geht zurück auf einen Text von Theresa von Avila, geschrieben in spanischer Sprache:
Nada te turbe,
nada te espante.
Quien a Dios tiene,
nada le falta.
Sólo Dios basta.
Deutsche Übersetzung:
Nichts soll dich ängsten,
nichts soll dich quälen;
wer sich an Gott hält,
dem wird nichts fehlen.
Nichts soll dich ängsten,
nichts soll dich quälen:
Gott allein genügt.
Viel Freude beim Anhören und Mitsingen!
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Gudrun Specht (Mittwoch, 16 April 2025 15:42)
Aus der Kantate 54 von J.S.Bach stammt dieses Lebensmotto:
„Widerstehe doch der Sünde, sonst ergreifet dich ihr Gift.“
Widerstand und Ergebung .Dietrich Bonhoeffer . Diesen gewaltigen Spannungsbogen gilt es auszuhalten und auszuleben.